"Der Bauerneffekt"

Schutz für kleine Kinder? / Keime regen Immunsystem an

Allergien haben in den Industrieländern ein beängstigendes Ausmaß erreicht. Die so genannten utopischen Krankheiten, zu denen Heuschnupfen, Neurodermitis und Asthma gerechnet werden, nehmen seit Jahrzehnten zu. Eine schlüssige Erklärung dafür gibt es bislang nicht. In jüngerer Zeit mehren sich aber Hinweise darauf, dass der westliche Lebensstil eine Rolle spielt. Möglicherweise ist das Immunsystem in der Kindheit unterfordert. Umfassende Hygiene im Haushalt und industriell hergestellte Nahrungsmittel bewirken, dass der Organismus mit verhältnismäßig wenig Keimen in Berührung kommt. Wie Forscher in den Vereinigten Staaten jetzt herausgefunden haben, scheinen im Hausstaub enthaltene Bakterien tatsächlich die Entwicklung einer Allergie zu hemmen. 

Eine Arbeitsgruppe vorn National Jewish Medical and Research Center in Denver/Colorado hat 61 Kinder im Alter von 9 bis 24 Monaten untersucht, bei denen Atemgeräusche registriert worden waren. Diese legten den Verdacht auf eine Allergie nahe. Ein Hauttest (Prick-Test) führte zu dem Ergebnis, dass zehn der Kinder gegenüber mindestens einem der gängigen Allergene wie Tierhaare, , Hausstaubmilben oder Hühnereiweiß sensibilisiert waren. Die Wissenschaftler entnahmen daraufhin in allen Wohnungen Proben von Hausstaub und ermittelten den Gehalt an Endotoxin. Die von verschiedenen Bakterien gebildeten Endotoxine können als Maß für die Keimbelastung des Hausstaubes dienen. 

Wie Andrew Liu und die anderen beteiligten Forscher in der Zeitschrift "Lancet" (Bd. 355, S. 1680) berichten, enthielt der Staub aus den Wohnungen der nicht sensibilisierten Kinder durchschnittlich mehr als doppelt so viel Endotoxin wie der aus den anderen Wohnungen. Die bakteriellen Substanzen regen das Immunsystem dazu an, bestimmte Arten von Cytokin, Interferon und Interleukin zu bilden. Es handelt sich dabei um eine lmmunreaktion vom Typ I. Diese wirkt einer anderen, bei Allergien ablaufenden und als 'Typ II bezeichneten Immunreaktion entgegen. Nach Ansicht der Forscher hat man nun möglicherweise den ersten direkten Beweis dafür gefunden, dass der frühe Kontakt mit Endotoxinen vor einer Sensibilisierung gegenüber Allergenen schützt. 

Schon vor mehreren Jahren hatte Erika von Mutius, Epidemiologin am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München, mit ihrer Arbeitsgruppe herausgefunden, dass auf Bauernhöfen lebende Kinder verhältnismäßig wenig Allergien haben. Der zunächst rätselhafte "Bauern-Effekt" beruht offenbar, wie weitere Untersuchungen ergaben, maßgeblich auf dem Kontakt mit Vieh und Geflügel. Im Stall gibt es ein breites Spektrum von Bakterien sowie Schimmelpilze und Milben. Schon ein gelegentlicher Aufenthalt im bäuerlichen Stall scheint das Allergie-Risiko für Kinder zu senken.

Aus Frankfurter Allgemeine Zeitung, Mai 2000

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