Bescheidene Zypresse des Nordens
Der Wacholder ist "Baum des Jahres" 2002

Von Caroline Möhring

DRESDEN, 11. Oktober. Oft ist er nur ein Strauch. Immergrün und ausstaffiert mit arg stachelig-spitzen Nadeln, die zu dritt in Quirlen stehen, und mit kleinen schwarzen Beeren, die gar keine Beeren sind, sehr genügsam und bescheiden und entsprechend weit verbreitet von der See bis ins Gebirge, gemeinhin bekannt als Gemeiner Wacholder. Nun wurde er zum Baum des Jahres 2002 gekürt. Tatsächlich kann Juniperus communis, wie die Botaniker ihn nennen, auch zu ansehnlichen Bäumen wachsen. Zehn bis fünfzehn Meter hoch können solche Exemplare werden, die ihrer säulenförmigen Gestalt den Titel "Zypresse des Nordens" verdanken. Häufiger aber kommen strauchartige Formen vor, vom Grunde an verzweigt und bis zu fünf Meter hoch, und in extremen Situationen duckt sich der Wacholder auch sein langes Leben lang dicht an den Boden. Ungewöhnlich vielgestaltig ist der "Baum" des kommenden Jahres. Und auch sonst hat er manche bemerkenswerte Eigenschaft.

Knospen beispielsweise bildet diese Pflanze erst gar nicht. Nur einige unterentwickelte Nadeln schützen die zarten Spitzen der Triebe, die denn auch jeden Sonnenstrahl nutzen und, anders als andere heimische Gehölze, sogar im Winter wachsen können, sobald es eine Weile warm ist. Dennoch wächst der Wacholder sehr langsam. Baumförmige Exemplare erreichen in zehn Jahren meist nur eine Höhe von einem Meter. Dafür werden die Pflanzen sehr alt: Mit 500 bis 2000 Jahren sind sie nach der Eibe die ältesten auf unserem Kontinent. Auch steigen sie weiter als alle anderen Gehölze Europas in die Berge hinauf. Bis in 3750 Meter Höhe kann man sie in den Alpen finden, denn Juniperus communis aus der Familie der Zypressen erträgt große Kälte und stellt kaum Ansprüche an den Boden. So reicht sein europäisches Verbreitungsgebiet von der Küste des Eismeeres im Norden bis nach Zentralspanien, Sizilien und auf den Peloponnes. Auch im Süden Grönlands und in Nordamerika kommt er vor.

So bescheiden der Wacholder in puncto Boden ist, so abhängig ist er vom Licht. Er liebt den vollen Sonnenschein und die offene Landschaft. Er wächst auf Sand-, Fels-, Schotter- oder Trockenfluren, in Heiden oder Macchien, kurz: überall dort, wo andere Gehölze schwerlich gedeihen. In Konkurrenz mit anderen hat er es schwer. Erfolgreich setzen sich die wehrhaften Pflanzen allerdings in Heiden und Magerrasen durch, denn ihre eklig spitzen Nadeln schützen sie vor den gefräßigsten Schafen. In Landschaften wie der Lüneburger Heide prägt der Wacholder bis heute das Bild. Bis ins 16. Jahrhundert hinein, zu Zeiten der Waldweide und der großflächigen Rodungen, dürfte er weit öfter vorgekommen sein. Darauf deuten auch seine vielfältigen Namen hin, mehr als 150 sollen es sein. So heißt er Räucherstrauch oder Weihrauchbaum, Kranewitt, Kniste- oder Knastebusch, Weckholder, Queckholder und Reckholder, Feuerbaum, Krammetsbaum, Krammelbeere, Wachtelbeerstrauch und anderes mehr.

Manche dieser Bezeichnungen sagen etwas über seine Nutzung aus. Das weiche, aber zähe und aromatisch riechende Holz wird für Schnitz- und Drechselarbeiten oder zum Räuchern benutzt. Verwendung finden freilich vor allem die "Wacholderbeeren", die eigentlich kleine Zapfen sind. Schließlich gehört Juniperus zu den Nadelhölzern, die botanisch Koniferen - nämlich "Zapfenträger" - heißen. Schon wenige Monate nach Blüte und Befruchtung schließen sich seine kugelförmigen Beerenzapfen, lassen im ersten Jahr jedoch die Nähte zwischen ihren drei Schuppen noch erkennen. Im Sommer des folgenden Jahres werden sie dann fleischig und schwarzblau und bekommen einen Wachsüberzug.

Beliebt sind sie bei einigen Vögeln, die auch die Verbreitung der Samen übernehmen, und bei den Menschen, die damit Wild, Sauerkraut und Gurken würzen. Auch vergären lassen sie sich. Dann entstehen Gin, Genever, Borovicska oder Steinhäger. Heilende Kräfte hat der Wacholder ebenfalls: Innerlich angewendet, wirken seine Beerenzapfen magenstärkend, blutreinigend und harntreibend, äußerlich fördern sie die Durchblutung. Brennende Wacholderstämme galten einst als Mittel gegen die Pest. Ein Trank aus seinen "Beeren" sollte zudem die Gabe verleihen, in die Zukunft zu sehen. Um ihm selbst eine größere Zukunft zu geben, hat das Kuratorium "Baum des Jahres" ihm jetzt den Ehrentitel verliehen.

Aus Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.2001

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