DIE ZEIT

Wirtschaft 40/2002

Gift im Trog

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Mehr Vorsorge hin, härtere Kontrollen her: Die Bauern können gefährliche Stoffe nicht vollständig aus dem Tierfutter verbannen. Der Fehler liegt im System

von Tanja Busse

Manchmal geraten ganz banale Dinge in Vergessenheit. Etwa, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Qualität des Tierfutters und dem Fleisch oder der Milch im Supermarkt. Jahrzehntelang interessierte sich niemand dafür. Erst als Ende 2000 die ersten deutschen BSE-Fälle bekannt wurden, erfuhren die meisten Verbraucher, dass Rinder als Vegetarier jahrelang mit gemahlenen toten Artgenossen gefüttert worden waren. Der BSE-Skandal schreckte die Verbraucher auf. Seither achten viele Konsumenten genauer darauf, woher das Fleisch stammt, das sie kaufen. Aber haben auch die Bauern und vor allem die Futtermittelfabrikanten aus dem Skandal gelernt? Neue Kontrollsysteme sollten für mehr Qualität sorgen, doch im Frühsommer wurde das verbotene Pflanzenschutzmittel Nitrofen im Ökogetreide entdeckt und wenig später das Wachstumshormon MPA im Futter. Die industrielle Futterherstellung steckt, so scheint es, immer noch voller Risiken.

Immerhin: Seit Februar 2001 geben die meisten Mischfutterproduzenten wieder an, woraus sie ihr Futter zusammenrühren. Über 20 Jahre war es gängige Praxis, über die Zutaten zu schweigen; Bauern mussten die Mixtur praktisch blind verfüttern. Von Ende 2003 an verpflichtet eine europäische Richtlinie alle Hersteller zur so genannten offenen Deklaration, also der Angabe der Inhaltsstoffe. Die Futterfabrikanten reagierten im vergangenen Jahr mit einer weiteren, freiwilligen Vereinbarung auf die Skandale: Sie einigten sich auf eine Positivliste von 350 Stoffen, die in der Tiernahrung künftig enthalten sein dürfen. Es tut sich also etwas.

Zu wenig, kritisiert der grüne Europaparlamentarier Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf. Er hofft auf eine für alle verbindliche Positivliste, die dem gefährlichen Prinzip "Alles darf rein, solange es nicht giftig ist" ein Ende setzt. Um größere Sicherheit zu bekommen, müsste die europaweit, am besten sogar weltweit durchgesetzt werden. Gerade die jüngsten Skandale um Nitrofen und das Hormon MPA hätten gezeigt, dass freiwillige Vereinbarungen und Kontrollen nicht ausreichen.

Zwei Grundprobleme bleiben - trotz Positivliste und offener Deklaration: Erstens neigt das System der Futtermittelherstellung zum Missbrauch. Zweitens können sich die Bauern vor fragwürdigem Tierfutter nur bedingt schützen, weil selbst gewissenhafte Kontrollen lückenhaft bleiben.

Für viele Landwirte eine bittere Erfahrung: Sie sind von der Futterindustrie gleich doppelt abhängig. Den Teil ihrer Ernte, den sie nicht selbst verfüttern, verkaufen sie an die rund 420 staatlich kontrollierten Mischfutterhersteller, von denen sie wiederum Nahrung für ihre Tiere beziehen. Dabei stehen die Bauern oft in engen Geschäftsbeziehungen zu einzelnen Händlern und Herstellern. Ohne zusätzliches Futter kommt kaum ein Landwirt aus, nicht einmal ein Biobauer. Vor allem fehlt es an Eiweiß, das besonders in Sojabohnen steckt, die die Futtermittelkonzerne aus Amerika importieren.

Welche Auswirkungen diese Abhängigkeit haben kann, mussten Landwirte in Brandenburg zu Beginn der Gerstenernte in diesem Sommer erfahren: "Als die ersten Felder gedroschen waren", erzählt Holger Brantsch vom Landesbauernverband Brandenburg, "da boten - was für ein Zufall - fast alle Futtermittelfirmen in der Region den gleichen Preis." Skandalös niedrige 7,50 Euro pro Doppelzentner Wintergerste. Im vergangenen Jahr hatten die Bauern noch 9 bis 10,50 Euro bekommen. Weil viele Landwirte keine eigenen Lagerhallen für Getreide besitzen, mussten sie direkt vom Feld an die Händler verkaufen. "Die waren angeschmiert", sagt Brantsch. Als dann das Gerücht von einer gemeinsamen Dampferfahrt der Futtermittelhändler auf dem Wannsee die Runde machte, zuckten die Brandenburger Bauern nur noch genervt mit den Schultern.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Bauern von der Futterindustrie betrogen fühlen. Deshalb betrachten sie das neu eingeführte Q & S-Prüfzeichen mit Skepsis. Das Kürzel steht für Qualität und Sicherheit, für die alle an der Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung Beteiligten bürgen sollen - vom Futtertrog bis zum Teller gewissermaßen. Wer bestimmte Standards erfüllt, darf das Prüfzeichen auf seine Produkte drucken. Q & S ist ein gemeinsames Projekt des Deutschen Bauernverbandes, des Raiffeisenverbandes der Fleischwirtschaft und anderer Vereinigungen. Genau das, so warnen die Kritiker, könnte für die Landwirte gefährlich werden. "Dieses Zeichen könnte den Bauern schaden, denn darin sind Futtermittelindustrie und Landwirtschaft zusammengesperrt", warnt Eckehart Niemann von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (ABL). "Die Skandale sind absehbar." Wann immer ein Landwirt künftig unwissentlich belastetes oder vergiftetes Futter in die Krippe schüttet, steht er unter dem Q & S-Siegel in gemeinsamer Verantwortung mit der Industrie. So werden die Landwirte, die sich ohnehin schon von den Futtermittelherstellern als Sündenbock missbraucht fühlen, für deren Fehler büßen müssen.

Denn trotz freiwilliger Positivliste birgt das Tierfutter noch immer ein großes Risiko. Verlässliche Informationen darüber, was die Hersteller untermischen, sind deshalb so wichtig, weil normale landwirtschaftliche Produkte wie zum Beispiel Getreide nur ein Teil der Zutaten ausmachen. In den knapp 20 Millionen Tonnen Mischfutter, die jedes Jahr in Deutschland hergestellt werden, steckt nur zu rund 40 Prozent Getreide. Der größere Teil besteht aus Abfallprodukten der Lebensmittelfabrikation - zum Beispiel aus Rübenschnitzeln, die bei der Zuckergewinnung übrig bleiben, aus Ölpresskuchen, in dem Reste von Sojabohnen, Rapskörnern und Sonnenblumensamen stecken, oder aus Klebereiweiß, das bei der Alkohol- und Stärkeherstellung entsteht. Vieles davon kommt aus dem Ausland, darunter etwa ausgepresste Orangen- oder Zitronenschalen von den Saftherstellern.

"Die Futtermittelindustrie betreibt Recycling, was grundsätzlich sinnvoll ist", sagt Alexander Müller, Staatssekretär im Verbraucherschutzministerium. "Doch im Laufe der Zeit wurde immer deutlicher, welche großen Probleme durch diese Nähe der Branche zur Abfallwirtschaft bestehen." Ein Beispiel: Jedes Jahr werden 50 000 bis 60 000 Tonnen landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu Nährlösungen für die Pharma- und Lebensmittelindustrie verarbeitet, auf denen dann zum Beispiel Hefen für die Antibiotikaherstellung wachsen. Nährlösungen aus der Pharmaproduktion müssen eigentlich als Abfall entsorgt werden, doch Alexander Müller vermutet, dass Futtermittelfirmen der Versuchung erliegen könnten, das billige Material unter ihre Produkte zu mischen. "Es ist zu befürchten, dass solche Nährlösungen nicht immer ordnungsgemäß als Abfall entsorgt werden, sondern auch - unter zweifelhaften Umständen - wieder an die Futtermittelindustrie entsorgt werden. Der letzte Hormonskandal hat gezeigt, dass so etwas vorkommt", warnt Müller. Bei solch krimineller Energie helfen weder Deklaration noch Positivliste.

"Das Grundübel liegt darin, dass bisher alles eingesetzt wurde, was Nährwert versprach", kritisiert Graefe zu Baringdorf. "Die Wissenschaft hat sich allen Ernstes Gedanken gemacht, ob man nicht Hühnerkot zu Kuhfutter aufarbeiten sollte, um die Eiweißlücke zu schließen." Dabei können selbst scheinbar harmlose Stoffe gefährlich sein: So hat das Bundesministerium für Verbraucherschutz herausgefunden, dass die in Mühlen anfallenden Getreidestäube um das Fünf- bis Zehnfache höher mit Schadstoffen wie Dioxin belastet sind als das Mehl. Diese Stäube dürfen aber immer noch ins Tierfutter gemischt werden.

Gerade bei Futterersatzstoffen aus chemischen Prozessen wären Kontrollen besonders wichtig. Die aber sind für die einzelnen Komponenten noch immer nicht vorgeschrieben, die Behörden der Bundesländer kontrollieren in der Regel nur das Endprodukt, das fertige Mischfutter. So wird also denkbar, dass ein Hersteller, verleitet durch den großen Preisdruck in der Branche, beispielsweise eine dioxinhaltige Charge so lange mit unbelastetem Futter verschneidet, bis das fertig gemischte Futter unter der Nachweisgrenze für Dioxin liegt, sagt Graefe zu Baringdorf. "Damit werden in letzter Konsequenz Menschen zu Endlagerstätten von Abfällen gemacht."

Einige große Unternehmen ergänzen die staatlichen Kontrollen im eigenen Interesse, um ihren Ruf bei den Landwirten nicht zu gefährden. Der Futtermittelhersteller Deuka gibt beispielsweise an, jedes Jahr sechs Millionen Euro für Analytik und Qualitätssicherung auszugeben. "Wir machen jährlich 180 000 Untersuchungen auf Nährstoffgehalte und unerwünschte Stoffe", sagt Lothar Hickmann, der Rohstoffeinkäufer der Deuka. "Wenn wir Sojaschrot importieren, kontrollieren wir die Chargen im Ursprungsland, im Seehafen und im Werk. Generell wird bei uns jede Produktionscharge beprobt und analysiert." Doch solange die systematische Kontrolle aller Einzelkomponenten freiwillig ist, bleibt ein Risiko.

Für eine völlige Schadstofffreiheit wird es wohl nie eine Garantie geben können. Selbst Hickmann von Deuka muss zugeben, nicht auf jeden möglichen Schadstoff zu prüfen. Schimmelpilze und Dioxin, das seien Dinge, nach denen intensiv geforscht werde, da sie immer mal auftauchten. Nitrofen aber würde bei Standardkontrollen nicht entdeckt, weil der Stoff seit Jahren verboten ist - und nach unerlaubten Stoffen wird in der Regel nicht mehr gesucht.

Genau das wird der Schwachpunkt bleiben, selbst wenn offene Deklaration, Positivlisten und entsprechende Kontrollen weltweit zur Pflicht gemacht würden: Es wäre schlicht unbezahlbar, alle Futterkomponenten auf jeden möglichen Schadstoff zu kontrollieren. Dazu ist die Zahl der gefährlichen Substanzen einfach zu groß. Die Gesetze der Risikogesellschaft gelten eben auch für Futtermittel. Eine industrialisierte Wirtschaft produziert Hunderttausende von Giften, die - ob durch Versehen, kriminelle Energie oder Schwachstellen in den Kontrollsystemen - ins Tierfutter gelangen können.

Graefe zu Baringdorf, der als Sprecher die neue EU-Richtlinie zum Tierfutter im Europaparlament verkündet hat, freut sich dennoch über jeden Schritt nach vorn. "Das war ein großer Moment nach so vielen Jahren."

Aus "Die Zeit" Ausgabe 40/2002

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