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Deutschlandfunk: Umwelt und Landwirtschaft
Manuskript vom: 10.3.2003 • 16:35

Hysterie oder Vorsichtsprinzip

Tierärzte zu Lebensmittelskandalen

"Zur Sicherheit von Lebensmitteln tierischen Ursprungs", lautete das Thema, zu dem sich Tierärzte aus ganz Deutschland jetzt in Wiesbaden auf einem Frühjahrssymposium trafen. Und eines wurde auf der Veranstaltung überdeutlich: Die Veterinäre hängen die Gefahren der Lebensmittelskandale des vergangenen Jahres deutlich niedriger, als es die offizielle Verbraucherschutzpolitik tut.

Nitrofurane in Geflügel und Chloramphenicol in Shrimps waren keine Gesundheitsgefahr für Verbraucher in Deutschland. Dass im vergangenen Jahr dennoch Lebensmittel-Skandale daraus wurden, hatte wenig mit Lebensmittelsicherheit zu tun, sondern vor allem mit Anhang 4 der EU-Höchstmengenverordnung für Tierarzneimittelrückstände, sagt Professor Dieter Arnold, ehemaliger Leiter des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin. Eine "Anhang 4-Substanz" ist nämlich laut EU-Verordnung "in jeder Konzentration eine Gefahr für die Gesundheit des Verbrauchers." Das heißt: kein Grenzwert und Null-Toleranz für Chloramphenicol, Nitrofuran und acht weitere Stoffe. Aber, so Professor Arnold:

Bei der praktischen Durchführung der Verfahren für viele Stoffe sind nach meiner Auffassung auch Stoffe in diesen Anhang gelangt, für die diese Annahme nicht zutrifft, sondern lediglich die Datenlage unvollständig ist, so dass man nicht in der Lage ist, Schwellenwerte oder Grenzwerte festzusetzen. Und das muss man unterscheiden, denn sonst werden sich die Analytiker überbieten, um noch einzelne Moleküle dieser Stoffe nachweisen zu können, wenn die Fiktion aufrecht erhalten wird, dass alle Stoffe in jeder Konzentration eine Gefahr für die Gesundheit des Menschen bedeuten.

Diese "Fiktion" widerspricht auch dem Grundgesetz der Toxikologie, dass nicht schon bloßes Vorhandensein, sondern erst die Dosis das Gift macht. Wer aber lange und genau genug nach einer Anhang-4-Substanz suche, der könne sie auch finden - und dann müssten möglicherweise Herden von Tieren geschlachtet und Tonnen von Lebensmitteln vernichtet werden, obwohl keinerlei Gefahr für Verbraucher bestand. Solche Einschätzungen von Risiko gingen an den tatsächlichen Gefahren durch Ernährung gänzlich vorbei, sagt Anja Schienkiewitz vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke. Sie fragte in ihrem Vortrag auf der Tierärzte-Tagung: "Woran stirbt der Verbraucher?" und nannte Todesfälle von nicht zuletzt ernährungsbedingten Krankheiten:

An Herz-Kreislauferkrankungen sind im Jahr Zweitausend 395.000 Menschen gestorben und der Anteil derjenigen, die an Krebserkrankungen gestorben sind, - das sind ja 25 Prozent an allen Todesursachen - sind 210.000 Personen. Ich denke, dort lässt sich schon ganz gut das Verhältnis ablesen.

Fast 400.000 Todesfälle im Jahr durch Herz-Kreislaufkrankheiten, das entspreche dem Absturz von drei voll besetzen Jumbo-Jets über Deutschland - und zwar jeden Tag. Nachweisbare Gesundheitsschäden durch die berüchtigten Skandalsubstanzen des vergangenen Jahres, zu denen noch Nitrofen und Medroxyprogesteronacetat (MPA) zu zählen wären: Keine. Warum aber haben dann Rückstände in Lebensmitteln eine derart hohe, auch öffentliche Bedeutung erlangt, warum wird Lebensmittelsicherheit als "Null-Gefährdung" dargestellt? Eine Antwort von Professor Bernd Hoffmann, Universität Gießen:

Mit der Sicherheit lässt sich sehr gut Politik betreiben und mit den kleinsten Unstimmigkeiten oder Übertretungen von Verordnungen. Daraus resultieren politische Skandale, die - wenn man den Wahrheitsgehalt dahinter betrachtet - zwar Übertretungen sind, aber nicht unbedingt eine Verbrauchergefährdung beinhalten. Also manchmal wird das Kapitel Lebensmittelsicherheit aus politischen Gründen sicherlich hochgespielt, auch, um auf der politischen Bühne besser bestehen zu können.

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